Dampfeisenbahn
Mit dem Kauf einer Modellbahn für seinen Sohn hatte sich mein Vater Mitte
der sechziger Jahre einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Dass ich mit
der Anschaffung ganz zufrieden war, zeigt ein Foto aus jenen Tagen. Das Vorbild
hatte ich Tag für Tag vor Augen, denn ich konnte vom Balkon runter ins
Murgtal schauen und keine 300 m Luftlinie entfernt die bullenstarken Fünfkuppler
der BR 82 arbeiten hören. Nach Aussagen meiner Großmutter soll
mir eine solche Dampflok auch mein erstes Da! mit Fingerzeig in
Richtung der Schwarzen entlockt haben. Leider läßt sich für
dieses epochale Ereignis kein weiterer verlässlicher Zeuge finden.
Meine frühe Zuneigung zur Dampfeisenbahn hatte also einen realen Hintergrund.
Dieser Geruch, der manchmal im Tal hing, nachdem eine Dampflok durchfuhr,
den habe abgespeichert und kann ihn mit einem Stichwort in mein Gedächtnis
rufen. Mit der Einführung der Dieseltraktion auf meiner Heimatstrecke
wurde ich zeitweise zum Verräter an der eigenen Sache. Die roten Loks
waren viel spektakulärer und stärker als die Dampfloks, so dass
ich die Dampfer einfach als altmodisch abtat. Den Hang zum Neuen gleich auslebend,
war für mich auch klar, dass mein Traumberuf nicht wie für viele
meiner Alterskameraden lediglich Lokführer war, nein, ich wollte Lokführer
auf einem TEE Triebwagenzug werden. Nicht weniger.
Es kam zu einem Urlaub bei einem Onkel, der Bahnhofsvorsteher im Hessischen
war. Ein kleiner Bahnhof mit Güterschuppen, der vormittags von einem
Übergabezug bedient wurde, was auch immer mit Rangierarbeiten verbunden
war. Und ich durfte auf die Diesellok und dabei sein, als hin und her rangiert
wurde. Es war der Himmel auf Erden für einen achtjährigen Jungen.
Doch die Besuche bei meinen Großeltern in Ludwigslust nährten die
Bewunderung für Dampfloks auf Neue. Ich lief regelmäßig von
der Kanalstraße aus zum Bahnhof, um mir dort die großen Dampfloks
anzuschauen, die von Hamburg nach Berlin unterwegs waren. Heute weiß
ich, es waren zumeist die BR 01 und 03, die ich vor den Interzonenzügen
zu sehen bekam. Viel wichtiger als technische Details waren damals jedoch
der Geruch, der Dampf, das Geräusch und das Erstaunen darüber, dass
eine Dampflok lautlos und rucklos anfahren konnte. Eine Gänsehaut erzeugten
die bei Regen ins Schleudern geratende zwei Meter hohen Räder, sowie
das Keuchen der Loks vor schweren Zügen. Diese Maschinen lebten. Es war
die Faszination der Kuppelstange, die die Kraft des heißen Kessels und
der Feuerbüchse bildlich umsetzte und körperlich erfahrbar machte.
Ich glaubte wirklich zu wissen, wie eine Dampflok arbeitete, ganz im Gegensatz
zu den roten Dieselloks anderenorts. Ich mochte die Dampfloks. Und deren Lokführer.
Einer von ihnen fragte mich auf dem Ludwigsluster Bahnhof, ob ich seine Dampflok
haben wollte. Erst später fiel mir die dazu passende Antwort ein: Mit
solchen Sachen treibt man keinen Spaß..
In späteren Jahren verlegte ich mich auf das Sammeln von Dampflokmodellen,
las viele Bücher zur Geschichte der Eisenbahn. Ich besuchte viele Eisenbahnmuseen
und Dampflokfeste, bin bei vielen Dampfsonderfahrten mitgereist. Bis heute
versetzt mich jede Dampflok nach Ludwigslust oder ins Murgtal und hinterläßt
ein gutes Gefühl. Mittlerweile glaube ich zu wissen warum. Es ist die
Suche nach dem Staunen der Kindheitstage. Die Suche nach der Fähigkeit
sich einfach nur beeindrucken zu lassen ohne gleichzeitig für alles schon
eine Antwort parat zu haben.
Bei entsprechender Windrichtung kann ich von meinem Haus aus die Züge
auf dem vier Kilometer entfernten Bahndamm hören. Und jedesmal warte
ich auf den Pfiff einer Dampflokomotive. Ich bräuchte nur einen kleinen
Augenblick um ihn zu erkennen, ich glaube, ich würde ihn auch hören,
wenn er ganz leise wäre. Und die Fahrt ginge dann ins Murgtal. Oder nach
Ludwigslust.
Uwe Holz